Begegnungen

21 October 2012 | Buenos Aires

 

Ich spüre das leichte Zittern ihrer Hand, als sie ihre Rechte in die dargebotene Linke legt, sich vorsichtig in meine Umarmung schmiegt, den strohblond gefärbten Kopf auf meine Brust bettet. Es braucht einige Sekunden des Einfühlens, dann sind wir verbunden. Selbst mit den hochhackigen pinkfarbenen Schuhen ist sie noch einen Kopf kleiner als ich. Zwei Abende lang bin ich ihr ausgewichen, wandte den Blick wieder ab, wenn er zufällig den knallblauen Minirock streifte, oder ihre Beine, deren Altersflecken von der großmaschigen Netzstrumpfhose kaum verhüllt werden. Immer wieder traf ihr Blick meinen, hielt sie Ausschau nach mir, tat ich, als hätte ich es nicht bemerkt. Etwa Sechzig hätte ich geschätzt, auf die Entfernung hin. Nun, da sie mir direkt gegenübersteht und mich mit dem Blick eines altgedienten Lawinensuchhundes aus Augenhöhlen wie ein Braunkohletagebau mißt, lege ich nochmal fünfzehn Jahre drauf. Sie war hartnäckig, hat bis zur Damenwahl gewartet, sich ein Bonbon geholt und es mir erwartungsvoll überreicht. Konversation ist überflüssig, sie spricht nicht nur kein Wort Englisch, sie versteht auch keines. Doch sie kuschelt ihren Busen in die Kuhle unterhalb meines Rippenbogens, zufrieden und wissend, daß diese Tanda nun endlich ihr gehört. Und trotz des leichten Zitterns ihrer Hand lassen die netzbestrumpften Beine und der sichere Tritt keinen Funken des Zweifels aufkommen: auf dem Parkett ist sie eine Göttin.
 
Tango ist auch in Buenos Aires mehr eine Post-Fünfzig- als eine Prä-Dreißig-Veranstaltung. Das Jungvolk ist vergleichsweise rar, alles ab Pugliese gilt als Tango-Nuevo, die ganz neuen laufen unter "Tango Electronico" und sind hier längst schon wieder out. Die enge Umarmung fühlt sich einfach besser an. Zwischen zehn und fünfzehn Milongas können Tangueras und Tangueros täglich auswählen, am Wochenende das doppelte. Die Stadt gibt ein Infoheftchen heraus, wo an welchem Tag was stattfindet. Von Sporthallen bis kleine Straßencafés ist alles vertreten. Man stelle sich die Lieferinger Turnhalle mit Klapptischen und Plastiksessel entlang der Wände vor, das Deckenlicht zurückgedreht und schon geht's los. Oder das Café Tomaselli in Salzburg, wo zwischen den Tischen, zwischen Gemüsesupperl und Schinkenfleckerl oder was das Tagesmenü halt so hergibt, kurz ein paar Tangos eingeschoben werden, bevor die nachmittägliche Pflicht wieder ruft.
 
Cafés gibt es in Buenos Aires ohne Zahl. Man möchte meinen, daß man im altehrwürdigen Café Tortoni unter der Woche nicht auf einen Platz warten müßte. Tut man aber. Der Doorman hält die Schlange vor der Tür in Schach und läßt erst wieder wen rein, wenn wer rauskommt. Und Schlange stehen tun die Portenos brav, da wird nicht vorgedrängelt oder gemogelt. Ist mir trotzdem zu blöd – ich gehe ins zweitwürdigste, das Las Violettas, ein paar Kilometer weiter. Weniger Touristen dort, man kriegt problemlos einen Ecktisch mit Übersicht und sobald der Ober sich entschlossen hat, einen zu bedienen, verwöhnt er einen mit zuvorkommender Aufmerksamkeit, funktioniert die Nachbestellung mit Cabeceo und Handzeichen über 20 Meter hinweg und hat der mit Adleraugen gesehen, welches der drei zum Kaffee servierten Kekse ich lieber mochte, ist der zweite Serviergang bereits ganz auf mich abgestimmt. Da könnte der Herr Franz vom Bazar noch was lernen.
 
Zuvorkommend, freundlich, kontaktfreudig. So könnte man die Leute hier durchaus zusammenfassen. Frauen gegenüber sowieso, den Damen wird wie selbstverständlich beim Einstieg in den Bus der Vortritt gelassen und in der U-Bahn ein Sitzplatz angeboten. Als Traudi aus Bayern ein einziges Mal versucht, ein solches Angebot abzulehnen, ist die Wiederholung der Aufforderung immer noch höflich, der Blick aber sagt unmißverständlich: "Sitz!"
 
Was nehme ich mit aus dieser Stadt der vielen Superlative? In der es das beste Eis der Welt gibt (tatsächlich), die besten Steaks (aber auch nur Steaks, die Pasta ist zum Vergessen), den besten Fußball, die breiteste Straße, die älteste U-Bahn Südamerikas, die meisten Cafés, die schönsten Frauen und natürlich die weltbesten Tangueros? Es war ein gewagtes Experiment, mit nur wenig Tanzerfahrung hierher zu kommen, quasi kopfüber einzutauchen und natürlich war es zu kurz. Doch ich habe hier in zwei Wochen mehr getanzt und gelernt, als ich zuhause in einem Jahr die Möglichkeit gehabt hätte. Und trotz der Schlappen, Körbe und Rückschläge hat es dem tänzerischen Selbstbewußtsein ungeheuer gut getan, den Blick auf das große Ganze eröffnet, der vorher gefehlt hat. Meine Spanischkenntnisse sind in rapidem Tempo von 0 auf 100 gestiegen. Wörter. Also gut, inklusive Zahlen. Ein Doscientossettentaydos für den Taxifahrer geht wie selbstverständlich über die Lippen. Für den nächsten Besuch werde ich das Spanisch noch etwas aufrüsten – ist ja doch netter, wenn man sich am Parkett auch mit ein paar Worten verständigen kann und nicht nur mit Gesten. Die Zeit ist zu schnell vergangen, das nehme ich mit. Und eine Menge Eindrücke, die erst langsam nachwirken werden.
 
Am Flughafen kaufe ich noch ein paar billige Kopfhörer für das Mobiltelefon, nur und ausschließlich zu dem Zweck, beim Abflug Pugliese zu hören.
 
Hasta la vista, Buenos Aires!

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