Drachenfliegen in Luwan
Shanghai wird langsam vertraut. Was mir zuhause seit Jahren nicht gelingen will, nämlich die Gesichter der Kellnerinnen im Glücklichen Palast oder wie immer er heißt voneinander zu unterscheiden, geht hier langsam und unauffällig ganz von selbst. Und mit der Individualität der Gesichter streift die Stadt ihre Fremdheit ab, wird persönlich und läßt ihr Spektrum der immergleichen menschlichen Tragikomödie erkennen. Hier reich, dort arm, hier schön, dort häßlich, hier glücklich, dort traurig.
Nach einer schlaflosen Nacht, die ich schließlich zum Arbeiten genutzt habe und um 6:30 Uhr frühstücken gegangen bin, nur um mich anschließend bis zum Mittag aufs Ohr zu hauen, war ich im Park. Von der Wetterfront gibt es keine hoffnungsfrohen Neuigkeiten: alles grau in grau, der Nebel liegt wie eine Käseglocke über der Stadt und darunter ist die Luft zum Schneiden. Seltsamerweise gewöhnt man sich daran.
Das kalte unfreundliche Wetter freilich hält die Shanghaier nicht davon ab, die Parks zu frequentieren. Der Fuxing Park im Luwan Bezirk ist ein beliebter Treffpunkt fürs tägliche Tai Chi und – natürlich – zum Tanzen. Dafür braucht es keine Band, ein Diskjockey mit Ghettoblaster und einer Auswahl westlich angehauchter chinesischer Popsongs tut’s auch. Alle tanzen. Fast alle. Wer nicht tanzt, sieht den Tanzenden zu oder läßt Drachen steigen, bis der Einbruch der Dunkelheit zum Aufbruch zwingt.
Luwan ist eines der ältesten Viertel von Shanghai und war während der Blütezeit der Stadt, von Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges, beliebtes Villenviertel für die westlichen Familien die sich im Rahmen der französischen Konzession hier ansiedelten. Viele dieser Villen stehen noch, wenngleich sie heute nicht mehr von einzelnen wohlhabenden Familien bewohnt werden, sondern heruntergekommene und überbevölkerte Appartementhäuser darstellen, die ihren ehemaligen Charme nur mehr entfernt erahnen lassen.
A propos Drachenfliegen … Dragonfly ist eine Massage-Franchisekette mit dem Hauptinstitut in der Nähe des Fuxing Parks. Sehr empfehlenswert! Die Preise sind mit 135 Maos die Stunde eher im gehobenen Bereich angesiedelt, aber dafür kann man sich mit Englisch verständlich machen und sie richten sich ja auch an die Westerner mit ihrem Angebot. An die Eva kommt’s nicht ganz ran, meinem noch immer etwas verspannten Nacken aber hat’s gut getan. Es sieht dort genauso aus wie auf den Bildern der Webseite und bevor mir einer hinter vorgehaltener Hand grinst: da gehst in den Umkleideraum und ziehst dir eine lange Hose samt weiter Jacke an und so wirst massiert! Dry massage nennt man das. Das Love Nest ist nur für Pärchen.
Und ich bin noch immer nicht ganz weg. Vermisse alle zuhause und meinen Cappuccino am Morgen und kann die Einlagen für die Misosuppe, die’s hier zum Frühstück gibt, einfach nicht auseinanderhalten. Sweet und spicy verträgt sich nicht, jedenfalls nicht in der Misosuppe und schon gar nicht um 6:30 Uhr. Aber ich hab ja noch zwei Monate Zeit.
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