Stadt der Engel
Am Mittwoch ist tangofrei. Bis zum Abend jedenfalls, bis zur nächsten Milonga. Zeit, Buenos Aires auf meine Lieblingsart zu erkunden: zu Fuß. Ich marschiere Richtung Norden, Richtung Recoleta.
Wenn Buenos Aires das "Paris des Südens" genannt wird, ist Recoleta gemeint – Plaza Francia zeugt davon. Seit 140 Jahren ist es ist ein exklusives Wohnviertel mit zahlreichen wunderschönen Jahrhundertwendebauten, eleganten Boutiquen und deutlich mehr Bäumen als im Zentrum von Buenos Aires. Richtig schick wurde das Viertel, als die betuchteren Einwohner des alten Zentrums vor der Gelbfieberepidemie von 1871 flohen, ihre alten Häuser aufgaben und sich im Norden der Stadt neue bauten. Und noch eine zweite Stadt haben sie dort gebaut: die Stadt der Engel, den Friedhof von Recoleta.
55.000 Quadratmeter, sagt der Reiseführer, fast 5.000 Totenhäuser. Häuser, keine Erdgräber. Erbaut aus Stein und Marmor, im Jugendstil oder modern, den Wohnhäusern der Lebenden nachempfunden, mehrere Stockwerke oberirdisch, mehrere unterirdisch. Teils gigantische Monumente für jene, die sich selbst auch im Tod noch darstellen wollen: der alte General mit einer überlebensgroßen Statue seiner selbst neben kleineren Familienmausoleen, um die sich seit scheinbar Jahrzehnten niemand mehr kümmert. Ein leichtes Gruseln überkommt einen, wenn man durch die zerbrochenen Scheiben auf die gestapelten Särge blickt, die großteils überirdisch gelegt sind, so nahe, daß man sie mit der ausgestreckten Hand berühren kann. Bei manchen meint man, die Knochen der Toten sehen zu können, wenn nicht nur die Fensterscheiben, sondern auch ein Sargdeckel zerbrochen ist. Der Modergeruch, der aus Kammern aufsteigt, ist jedenfalls echt.
Und über allem trohnen die Engel. Hunderte, tausende. Sie stehen vor, neben und auf den Dächern der Häuser und wachen über die Toten.
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