Una noche en La Viruta

14 October 2012 | Buenos Aires

Die europäischen Klischees für Argentinien sind Pampa (von hier kommt das Wort ja schließlich), Rindfleisch und, zumindest bei Buenos Aires: Tango!

 
Der Argentinier selbst interessiert sich für Fußball, Politik und natürlich Essen. Sinkt die Quote – die größte Tageszeitung veröffentlich regelmäßig die Zahl der geschlachteten Rinder – glaubt man sich am Rande einer Hungersnot. Tango geht in Wahrheit vielen Argentiniern ein bißchen am Arsch vorbei oder ist etwa so wichtig, wie dem Österreicher der Walzer. Von wegen Lebensphilosophie und in die Wiege gelegt: Tanzschule, Gruppenstunde. Die eine ist süße Zwanzig, die andere Ende Vierzig. Beide sprechen sie leidlich Englisch und sind defintiv Tango-Anfängerinnen. Daß sie aus Buenos Aires stammen, hätte ich nicht vermutet und rette mich mit Komplimenten über die hervorragenden Sprachkenntnisse.
 
Auch Frederic aus Dublin treffe ich in der Schule. Ein Tangofrischling, der ist hier, um es ordentlich zu lernen. Nach dem Beruf gefragt, murmelt er etwas von Investment und self-employed, doch so wie ich ihn einschätze, ist er kein hungernder Vermögensberater, sind die zwei Monate Buenos Aires, die er hier zu verbringen gedenkt, zumindest finanziell kein Thema für ihn. Vielleicht sollte ich zwei Monate als Option ernsthaft erwägen? Danach stört mich zuhause garantiert kein Verkehrslärm mehr, denn Buenos Aires ist eine laute Stadt.
 
Die Zweimonatigen sind hier keine Seltenheit. Auch Michael aus Deutschland hat für sieben Wochen eingecheckt. Typ weißhaariger Pferdeschwanzträger, ehemals Banker, heute Privatier. Er ist das fünfte Mal hier und kennt sich aus. Tango tanzt er seit – ach, daran kann er sich schon gar nicht mehr erinnern. Sympathischer, umgänglicher Kerl, sehr berredet. Nur wenn er anfängt, über die Tangoszene hier wie dort zu schwadronieren und mit Lebensweisheiten zu würzen, dann wünscht man sich nach fünfzehn Minuten einen Auschaltknopf an ihm. Doch Dänemark ist entzückt über jemand aus der eigenen Alterskohorte, der des Englischen mächtig ist.
 
Das sind die Portenos eher nicht. Ohne Spanisch geht gar nichts. Was heißt Spanisch – ohne Cabeceo, den richtigen Blickkontakt zum Auffordern – geht auf Milongas schon gar nichts. Die argentinischen Prinzessinnen sind ausgesprochen kapriziös. Da ist man(n) dankbar für die gemietete weibliche Tanzbegleitung, selbst wenn sie etwas Mundgeruch hat. Aber den deutschen Damen geht es nicht viel besser. Traudi unterhält den Rest der Gruppe mit Anekdoten über das rüde Verhalten der Tangueros, die sie bei ihren unermüdlichen Gehversuchen auf den Nachmittags- und Abendmilongas tapfer und trotzig sammelt.
 
Die traditionellen Milongas sind besser zum Tanzen, teilweise allerdings unglaublich steif und konversationsarm. Die progressiven sind unterhaltsamer und auch vom Tanzstil spannender.
 
Wie das Malcolm. Hier trifft sich die Tangojugend, bläuliche Neoröhren tauchen den Tanzsaal mit Marmorboden in schummriges Licht. Ohne Cabeceo geht trotzdem nichts, die sympathische Dame hinter mir starrt demonstrativ in ihr Mobiltelefon, um den Blick nicht erwidern zu müssen. Schließlich klappt's doch noch mit einer vollbusigen Blondine, deren Parfum mir fast den Atem raubt, als sie ihren Kopf an meine Kehle kuschelt. Aber es funktioniert, und die Dame spricht sogar ein paar Worte Englisch – für ein Whereyoufrom und den Austausch der Namen reicht es. Kleine Schritte.
 
 
Ultimo Tango um halb Vier, dann gehen die Deckenlampen an und nach einer letzten Chacarera hauen sie uns raus. Der Marsch der Vertriebenen mit den kleinen Tanzschuhbeuteln über der Schulter führt zwei Häuserblocks weit. Im Armenischen Kulturzentrum befindet sich das La Viruta. In den 90er Jahren eine subversive Neuerscheinung, in der sich die Nuevo-Tänzer zusammengerottet haben, die keine Lust auf Anzug, Krawatte und steifen Milongero-Stil mehr hatten. Ich habe es mir wilder vorgestellt – wie das Catedral nur als Kellerbar. Doch es sieht aus wie eine Disco aus den 70ern, bunte Lichtorgeln, sehr düster, Cabeceo impossibile! Großer Tanzsaal, buntes Tischgewirr drumherum. Code: keiner. Ab drei Uhr früh ist der Einlaß gratis und dann kommen sie aus den anderen Clubs rüber ins La Viruta, denn hier kann man ab halb Sechs Frühstück ordern mit Café con Leche und frischen Medialunas, den argentinischen Croissants, getanzt wird bis Sieben.
 
Wir aber fallen um sechs Uhr früh, nach einem langen langen Tag endlich ins Bett. Denn um 10 Uhr ist wieder Tagwache…
 


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